Die Leichtigkeit des Seins

Stillstand ist der Tod. Diese Weisheit geistert so oder in leicht abgewandelter Form inzwischen seit zweieinhalbtausend Jahren durch Köpfe und Münder und hat heute wohl mehr Bedeutung, denn je. Doch während die alten Philosophen das Zitat zur Zeit seines Ursprungs vor allem nutzten, um den geistigen Stillstand anzuprangern, verbindet man es heute in erster Linie mit dem Druck zu wirtschaftlicher beziehungsweise technischer Entwicklung und der ständigen Notwendigkeit nach Fortschritt.

Dass diese Entwicklung vor keinem Bereich halt macht und uns alle regelmäßig betrifft, spüren wir mal mehr, mal wenig. Einige Veränderungen schleichen sich mit ihren Annehmlichkeiten in unseren Alltag, ohne dass wir den Wandel wirklich wahrnehmen. Beispiel gefällig? Während ihr diesen Zeilen lest, liegt mit Sicherheit ein Smartphone in Reichweite, dessen Funktionen weit über die eures ersten Mobiltelefons hinaus gehen. Du liest den Text gerade sogar auf dem Smartphone?! Noch vor zehn Jahren und mit einem normalen Handy unvorstellbar. Schöne, neue Welt.

Es gibt aber Veränderungen, die gehen nicht so leicht von der Hand, kommen gar einer Revolution gleich. Während die Möglichkeiten des Mobiltelefons Jahr für Jahr umfangreicher wurden und die Handys in unseren Taschen langsam und fast unbemerkt zu immer leistungsstärkeren und unverzichtbaren Smartphones heranwuchsen, gibt es Bereiche, in denen Neuerungen nicht ganz so unbemerkt Einzug halten, sondern das Dagewesene grundlegend verändern. Wieder ein Beispiel gefällig? Wie wäre es mit Elektromobilität?!

(R)-Evolution?!

In der Automobileindustrie und der Zweiradbranche gibt es gegenwärtig kaum ein Thema, welches die radikale Variante der Veränderung so verdeutlicht. Kaum eine andere Neuerung wird so kontrovers diskutiert, wie diese Revolution in der Antriebstechnik. Aber wie ist denn eigentlich der Stand der Dinge? Und – viel wichtiger – wie fühlt sich diese Veränderung an? Ist ein Motorrad mit Akku statt Tank noch ein Motorrad? Und kann ein fast geräuschloser Antrieb ohne Abgase und Vibrationen überhaupt Emotionen? Um das herauszufinden fuhren wir zwei Wochen lang ein Elektromotorrad von ZERO.

Das sich Asphalt-Süchtig.de der eher aktiven Variante des Motorradfahren verschrieben hat, kam als Testmotorrad nur die ZERO SR infrage, die laut Presseheft nicht nur das sportlichste Eisen im Angebot der kalifornischen Firma ist, sondern auch das leistungsstärkste. Zwar lesen sich die 50 kW (67 PS) nicht sonderlich spektakulär, bei den angegeben 144 Nm Drehmoment (in Worten: HUNDERTVIERUNDVIERZIG!) bekommt der Kenner aber direkt feuchte Hände. Für diejenigen, die damit nicht sofort was anfangen können: Die Ducati Panigale 1299 – der aktuell drehmomentstärkste Supersportler – leistet 144,6 Nm. Die SR hat also auf dem Papier absolute Killerqualitäten.

Das Kürzel SR identifiziert das Motorrad als stärkstes Mitglied der ZERO Familie

Das Kürzel SR identifiziert das Motorrad als stärkstes Mitglied der ZERO Familie

Bei der Übernahme des Testmotorrads ist aber erst mal Understatement angesagt. Das S im Kürzel „SR“ steht zwar für Streetfighter und das R verrät, dass es sich um die Modelvariante mit dem stärksten Motor handelt (es gibt auch eine schwächere ZERO S), wie ein Leistungsmonster sieht die SR aber nicht aus. Sieht man vom fehlenden Kupplungs- und Schalthebel einmal ab, ist die ZERO zwar ein vollwertiges Motorrad, man würde sie aber eher in die Kategorie „Einsteigermopped“ stecken. Denn trotz der Auslegung als sportlichtestes Motorrad der Modelpalette gibt es keine Vollverkleidung und auch das Antriebssystem sorgt für einen eher dezenten Auftritt. Durch den schlanken Akku, der an der Stelle platziert wurde, an dem üblicherweise ein Verbrennungsmotor sitzt, baut das Motorrad sehr schmal und wirkt von vorne fast zierlich. Auf den zweiten Blick offenbaren sich dann aber auch die sportlicheren Ambitionen. Die Verkleidungsteile sind kantig geschnitten und geben der SR ein eigenständiges, sportives Design, die Dämpfung übernimmt ein voll einstellbares Showa-Fahrwerk und die Bremsanlagen wird bereits ab Werk durch Stahlflexleitung aufgewertet. Seit diesem Jahr wird das Gesamtpaket noch durch Bereifung vom Typ Pirelli Diablo Rosso II abgerundet, die bei zügiger Gangart auch den nötigen Grip gewährleisten soll. Doch grau ist alle Theorie, was wirklich zählt, sind Fahreindrücke.

Schöne Linienführung, eigenständiges Design - auch ohne Vollverkleidung setzt die ZERO sportliche Akzente

Schöne Linienführung, eigenständiges Design – auch ohne Vollverkleidung setzt die ZERO sportliche Akzente

Die erste, zaghafte Kontaktaufnahme fällt dann – wie schon der erste optische Eindruck – erneut unspektakulär aus. Dass das Startprozedere bei einem Elektromotorrad nicht so emotional ausfallen würde, wie bei einem großvolumigen VauZwo, war keine wirkliche Überraschung, der tatsächliche Ablauf war dann aber noch nihilistischer als erwartet. Keine Surren der Einspritzelektronik, kein Anlasser, der die Kolben langsam in Bewegung setzt und kein dumpfes Grollen beim Erwachen des Aggregats. Nicht einmal den Startknopf muss man drücken. Schlüssel im Schloss drehen, das war´s. Einzig das leise Klacken eines Relais verkündet den Moment, ab dem Leistung abgerufen werden kann. Auch das Anfahren ist so einfach wie nie. Kein Spielen mit Gas und Kupplung, kein Aufheulen des Motors. Auf Vibrationen wartet man vergebens. Man vernimmt nur ein leichtes Summen des Elektromotors, das irgendwie an den Klang einer abfahrenden U-Bahn erinnert. Doch was passiert, wenn man am Gas dreht, ist alles andere als öffentlicher Nahverkehr.

Wolf im Schafspelz

So unscheinbar ZEROs SR im Stand daher kommt, so spektakulär ist ihr Auf- und vor allem Antritt im Fahrbetrieb. Das, was man anfangs meint, am Motorrad zu vermissen, ist bereits nach den ersten Metern vergessen. Kuppeln? Wozu?! Rechts sanft drehen und das Ding rollt einfach los. Schalten? Es gibt keine Motorgeräusche, die einem zum Gangwechsel ermahnen. Und das Beste: es gibt immer Leistung im Überfluss! Einfach unvergleichlich, wie die SR ab dem ersten Meter anschiebt. Wie vom sprichwörtlichen Gummiband gezogen, katapultiert der kleine Elektromotor Mann und Maschine bis zur Höchstgeschwindigkeit von 164 km/h und kennt dabei kein Leistungsloch und kein Verzagen. Bis zur 100 km/h Schallmauer gelingt der Sprint in gerade einmal 3,3 Sekunden und das – sofern man will – bei jedem Start. Gas aus dem Stand auf Anschlag und das Ding geht raketenmäßig nach vorne. Und zwar nur nach Vorne. Dank einer minimale Latenz beim Gasanlegen wird die Leistung tatsächlich nur in Vortrieb umgewandelt. Gas-Wheelies kennt die SR nicht. Charakterlos meint ihr? Auf keinen Fall! Diese perfekte Leistungsenfaltung will man nicht mehr missen, denn sie macht das Fahren extrem leicht und angenehm.

Wolf im Schafspelz: Von der Seite wirkt die SR fast wie ein Einsteigermotorrad, aber wehe dem, der sie herausfordert. Beim Ampelsprint ist sie (fast) nicht zu knacken.

Wolf im Schafspelz: Von der Seite wirkt die SR fast wie ein Einsteigermotorrad. Aber wehe dem, der sie herausfordert. Beim Ampelsprint ist sie (fast) nicht zu knacken.

Leicht – oder besser – leichtfüßig ist auch das passende Stichwort, will man das Handling der ZERO beschreiben. Die Sitzposition auf der wertigen, aber nicht besonders bequemen Sitzbank ist zwar nur semi-aktiv, das Fahrverhalten des fahrfertig 188 Kilogramm schweren Motorrads ist aber trotzdem extrem agil. Das liegt zum einen am breiten Lenker, vor allem aber am tief im Rahmen positionierten Akku und Motor, was für einen sehr niedrigen Schwerpunkt sorgt. Das ist besonders im Stadtverkehr ein echter Segen. Staut sich der Verkehr mal wieder an der Ampel, zieht man einfach geräuschlos an der Schlange vorbei. Auch eine versetzt stehende Kiste ist kein Problem, denn man wuselt mit der SR auch spielend zwischen den Autos durch, wenn in der Reihe mal ein Tick  mehr Platz ist. Kein lästiges Spielen mit der Kupplung, kein enger Lenkanschlag, der zum Rangieren nötigt. Die SR spült einen gelassen und seelenruhig ans vordere Ende der Schlange. Nur SUVs sollten keine in der Nähe sein, da der hohe Lenker sich hier meist genau auf Spiegelhöhe befindet.  „Und auch der geräuschlose Antrieb ist nicht immer ein Segen. Das fällt besonders dann auf, wenn man auf etwas weniger frequentierten Straßen unterwegs ist. Hier kam es in der Testphase mehrmals zu brenzligen Situation, da die ZERO durch die fehlenden Motor- und Rollgeräusche akustisch kaum oder gar nicht wahrgenommen wird. Egal, ob Fußgänger die nach einem flüchtigen Blick einfach auf die Straße laufen und das Motorrad übersehen oder Radfahrer, die ohne zu schaue nach Links abbiegen, weil sie nicht erwarten, dass sie überholt werden – so häufig musste ich noch nie alle Sinne beisammen haben, um Schlimmeres zu vermeiden. Hier muss sich auf jeden Fall noch etwas tun.

Doch das Motorradleben spielt sich natürlich nicht im verkehrsberuhigten Bereich ab und die wichtigste Frage muss jenseits der Stadtgrenze geklärt werden: Wie sportlich kann die SR wirklich?

Wie viel Sport steckt in der SR?

Dank des antrittsstarken Motors lässt man die Stadt schnell hinter sich und erfreut sich bei jedem Ampelsprint der verdutzten Gesichter der Sportwagen- und Tuning-Golf-Fahrer, die mal eben dem Mann auf dem vermeintlich schwachbrüstigen Mopped zeigen wollten, wer den Größeren in der Hose hat. Einfach herrlich.

Sobald man aber im Moppedrevier ankommt und auf Gebückte trifft, hat der Spaß aber leider schnell ein Ende. Dank des wieselflinken Handlings und dem drehmomentstarken Motors kann die ZERO auf engem Geläuf zwar gut gegenhalten, werden die Radien aber weit und schnell, kommt sie an ihre Grenzen. Wider erwarten ist es aber nicht die Einscheibenbremse, die für Verdruss sorgt. Im Gegenteil. Die Kombination aus 320er Scheibe und dem konservativ axial verschraubten Bremssattel vom spanischen Hersteller J.Juan überzeugt nicht nur durch gute Bremsleistung bei geringer Handkraft (zwei Finger reichen immer), sondern zeigt sich auch überraschend standfest und glänzt mit einem abschaltbaren ABS. Auch das Showa-Fahrwerk macht einen ordentlichen Job, obwohl es nicht unbedingt zu den feinfühligsten Zeitgenossen gehört und vor allem beim Bremsen auf schlechtem Belag sensibler agieren könnte.

Ein Herz für Sportler: Das ABS der SR lässt sich per Tastenkombination abschalten und ermöglicht so auch spätes Ankerwerfen und Stoppies

Ein Herz für Sportler: Das ABS der SR lässt sich per Tastenkombination abschalten und ermöglicht so auch spätes Ankerwerfen und Stoppies

Paradoxerweise ist tatsächlich der Motor, der den Fahrspaß hier sprichwörtlich etwas einbremst. Der über Kühlrippen passiv gekühlte Motor überzeugt zwar mit mächtig Drehmoment, kommt aber bei sportlicher Gangart schnell an seine thermischen Grenzen. Ist man zügiger unterwegs, warnt bereits nach wenigen Kilometern die Motorleuchte vor zu hohen Temperaturen und droht mit dem Notprogramm, welches Leistung kappt und so das Aggregat vor Überhitzung schützen soll. An die engagierte Hatz gegen ein konventionelles Motorrad mit Verbrenner ist hier leider nicht zu denken. Und es gibt noch einen weiteren Punkt, den man unbedingt einkalkulieren sollte, bevor man auf die Hausrunde geht. Dreht man ordentlich am Quirl, geht die versprochene Reichweite schnell in die Knie und die werkseitig angegebenen 175 Kilometer schmelzen ruck, zuck auf 80-100 Kilometer zusammen. Man sollte Route und Fahrstil als genau planen, bevor man sich zu weit von der nächsten Lademöglichkeit entfernt.

State of the Art

ZERO bietet hier aber ein paar Lösungen, die die Reichweitenproblematik wieder etwas relativieren. Zum einen gibt es die Möglichkeit, das Motorrad mit einem extra Power-Tank auszustatten. Dieses Teil ist ein Zusatzakku, welcher die Kapazität auf insgesamt 15,9 Kilowattstunden erhöht und so eine Reichweite von knapp 160 Kilometer ermöglichen soll. Damit lässt es sich dann schon wieder leben. Die zweite Möglichkeit funktioniert auch ohne Zubehör. Als zukunfsorientierter Hersteller hat ZERO für die Motorräder eine eigene App entwickelt, die es via Bluetooth nicht nur erlaubt, die Restreichweite, den Ladezustand und verschiedene weitere Kenngrößen jeder Zeit abzurufen, sondern man kann damit auch den Custom-Mode des Motorrads anpassen. Hier lässt sich zum Beispiel definieren, wie viel Leistung maximal abgegeben werden soll oder wie schnell die Höchstgeschwindigeit sein darf. Beides Punkt, die einen direkten Einfluss auf den Stromverbrauch und damit natürlich auch auf die Reichweite haben. Darüber hinaus zeigt einem die App, wie viel Geld und fossilen Brennstoff man während seiner Fahrt bereits gespart hat. Das gibt einem irgendwie ein Start-Up-Gründer-Silicon-Valley-Gefühl. Zieht man den Schlüssel ab und geht ins Büro, verschwindet dieser Anflug von Hipster aber schon wieder. Das könnte zum einen am langweiligen Bürojob liegen, den man tatsächlich hat, eventuell ist aber auch einfach der Zündschlüssel der ZERO schuld, der eher wie ein Briefkastenschlüssel wirkt und nur wenig von den 17.840 Euro mitbekommen hat, die die SR im Standard-Trim kostet. Steuervorteile und Öko-Bonus hin oder her – hier muss ZERO unbedingt nachlegen. Wenn ich Innovation verkaufe, müssen auch alle Details dazu passen.

Nicht ganz stimmig: Der billig wirkende Schlüssel schmälert etwas den innovativen Flaire des Motorrads

Nicht ganz stimmig: SR kommt zwar mit eigener App, der billig wirkende Schlüssel schmälert aber den innovativen Flaire des Motorrads

Stadt-Rennerle

Eigenständige Design, tolles Handling, ein extrem potenter Motor – die ZERO bringt eigentlich alles mit, was man sich von einem sportlichen Motorrad wünscht. Auch wenn die Optik auf den ersten Blick nicht unbedingt erwarten lässt, dass die SR es auch mit den Großen aufnehmen kann, bleibt im Fahrbetrieb kein Auge trocken. Vor allem auf der Kurzstrecke wie dem Weg zur Arbeit oder der kleinen Feierabendrunde ist das Motorrad ein absoluter Freudenspender. Wer einmal diese lineare Leistungsentfaltung und den perfekten Antritt erlebt hat, wird das nicht mehr vergessen. Auch wenn das S im Modellkürzel SR bei ZERO für „Streetfighter“ steht, sollte man vor allem in außerhalb der Stadt und in freier Wildbahn dem direkt Wettstreit und dem harten Kampf Motorrad gegen Motorrad lieber aus dem Weg gehen. Auch wenn ein ambitionierter Reiter dem Herausforderer kurzzeitig die Stirn bieten kann, geht ihm dann vermutlich auf dem Heimweg sprichwörtlich der Saft aus.

Sport kann die SR noch nicht, sportlich aber sehr wohl und ist im Alltag ein echter Freudenspender.

Sport kann die SR noch nicht, sportlich aber sehr wohl und ist im Alltag ein echter Freudenspender.

Als reines Sportgerät sieht ZERO das Motorrad aber auch noch nicht, sondern zielt eher auf den innovationsorientierten Pendler ab. Der gemeine Schwabe wäre daher wohl geneigt, die Abkürzung SR mit „StadtRennerle“ zu übersetzen. Und hier hat sie nicht nur eine Daseinsberechtigung, sondern ist auf jeden Fall ein Anwärter für den Titel „Chef im Ring“. Die Kombination aus wieselflinkem Handling und mega Punch in allen Lebenslagen sind der absolute Hammer und machen die SR zur perfekten Kurzstreckenbegleiterin. Daher unser Fazit: Unbedingt ausprobieren!

 

 

 

 

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