Polverschiebung

Als Kawasaki im Jahr 2004 die ersten ZX-10R präsentierte, schlug das neue Flaggschiff der Grünen ein, wie die sprichwörtliche Bombe. Mit nominell 175 PS Leistung war es nicht nur das stärkste Motorrad im Superbike-Segment, sondern bot mit einem Trockengewicht von 182 kg auch das beste Leistungs/Gewichtsverhältnis. Dazu gesellten sich radial angeschlagen Bremssättel mit Einzelbelägen, eine DLC (diamond like carbon) beschichtete Gabel und eine, direkt aus dem MotoGP abgeleitete, Anti-Hopping-Kupplung. Um auch den letzten Zweifel an der Sportlichkeit dieses Kraftprotzes zu zerstreuen, wartete das komplett digitale Cockpit noch mit einem Schaltblitz und einem Laptimer auf. Das Gerät war schon allein auf dem Papier eine Macht. Abgerundet wurde das Gesamtpaket durch eine aggressive und polarisierende Optik.

Entsprechend selbstbewusst waren die Pressemitteilungen aus dem Hause Kawasaki. Vom „messerscharfen Handling“ einer 600er war da zu lesen, von „massivem Drehmoment„, „brillianter Ansprache“ und „brachialer Beschleunigung“. Kawa schuf sogar kurzer Hand eine neue Motorradbezeichnung – den „Hypersportler“.

Auch heute noch schick anzusehen - Kawasakis ZX-10R aus 2005

Und das Ding sollte halten, was man so vollmundig versprach. Das Handling war für damalige Zeiten fast nervös, der Motor generierte bereits ab niedrigsten Drehzahlen  verwertbare Leistung und was jenseits der 8.000er Marke passierte, war nur noch als katapultartig zu beschreiben. Wahlweise traf es auch der Vegleich mit dem „Ritt auf der Kanonekugel“. In Kombination mit den hervorragenden Bremsen und der nur von Kawasaki serienmäßig verbauten Slipper-Clutch, suchte die Performance der 10er damals ihresgleichen.

So viel zum Triumphzug der ersten ZX-10R. Blieb bei der ersten Modellpflege zum Glück noch fast alles beim Alten, begann mit der Überarbeitung für das Jahr 2006 der Abstieg. Aus dem markigen Männermotorrad mit angriffslustiger Optik und einem Tier von Motor, war ein rund gelutschtes Pummelchen mit dickem Hintern geworden. Und auch der Antrieb hatte deutlich an Biss verloren. Der Jahrgang 2008 wurde dann auch nicht viel besser. Optisch wieder etwas mehr auf der Höhe der Zeit, blieb die 08er dennoch hinter den Erwartungen zurück.

In diesem Jahr hatte die Firmenleitung in Akashi endlich Erbarmen und schickt mit der Urenkelin, der inzwischen schon kultverdächtigen 2004er ZX-10R, eine würdigere Nachfolgerin ins Rennen. Aber trägt sie die nötigen Gene der ersten Generation, um der Königin der Herzen das Wasser zu reichen und selbiger vielleicht sogar den Thron streitig zu machen? Klarheit über diese Frage kann nur ein direkter Schlagabtausch schaffen.

Kawas neue Speerspitze

Eckdaten

Doch zuerst werfen wir einen Blick auf das Technikblatt. Und auf dem Papier hat der Nachwuchs ganz klar die Nase vorn. Bei gleichem Leergewicht (198 kg bzw. 201 kg mit ABS) generiert die Urenkelin deutlich mehr Druck im Maschinenraum. War schon das 2004er Modell der Leistungsprimus in seiner Klasse, so legt auch das aktuelle Modell die Messlatte wieder ein Stück höher. Zumindest nominell. Während sich BMW bei der Markteinführung der S 1000 RR im Jahr 2010 noch in Understatement übte und die Maximalleistung mit tiefgestapelten 193 PS angab, sind die Mannen aus Nippon ausnahmsweise deutlich weniger zurückhaltend. Volle 200 PS sollen es sein. Mit Staudruck sogar knappe 210. Uff…

Aber nicht nur motorseitig hat sich einiges getan. Auch beim 2011er Modell wartet Kawasaki mit Innovationen direkt aus der Rennabteilung auf. Allen voran sind hier die inzwischen fast omnipräsenten, elektronischen Helferlein wie ABS und Traktionskontrolle zu nennen, die sich bei Kawasaki aber maßgeblich von den Produkten der Konkurrenz unterscheiden. Die serienmäßige Traktionskontrolle S-KTRC (Sport-Kawasaki Traction Control) ist in 3 Stufen einstellbar und wurde auf Basis der Erfahrungen aus dem MotoGP entwickelt. Dank ihrer sportlichen Auslegung bietet sie dem ambitionierten Racer mehr, als „nur“ ein Plus an Sicherheit. Während sie auf Stufe 3 sehr früh eingreift und jegliches Ausbrechen des Hinterrades verhindert, lässt sie ab Stufe 2 leichte Rutscher zu. Auf Stufe 1 ist es dann eine vollwertige Racing-TC, die ein Maximum an Vortrieb gewährleistet soll. Wer der Meinung ist, dass ihn selbst diese Einstellung auf der Rennstrecke eher behindert und langsamer macht, kann das System auch vollständig abschalten.

Neben der serienmäßigen Traktionskontrolle weißt unser Testmotorrad auch das optionale KIBS (Kawasaki Intelligent Anti-Lock Brake System) auf. Auch dieses ABS wurde für den sportlichen Einsatz entwickelt und regelt erst extrem spät, sodass bei optimalen Asphaltbedingungen bis an die Blockiergrenze des Reifens gebremst werden kann, ohne dass das System vorher regelnd eingreift.

Ein drittes Elektronik-Feature, welches wohl nur auf der Landstraße Verwendung finden wird, ist das System zur Wahl unterschiedlicher Motor-Mappings. Dabei stehen drei verschiedene Modi zu Verfügung. Die Einstellung „F“ bietet dabei jederzeit und in allen Lebenslagen die volle Leistung. Wählt man die Option „M“ zähmt die Elektronik all zu ungestümen Vortrieb, lässt aber in gewissen Situationen (zum Beispiel bei Überholmanövern) die volle Leistung zu. Mapping-Variante „L“ kann man wohl als Einstellung für Regen oder feuchten Asphalt betrachten. Hier werden nur circa 120 PS Leistung freigesetzt. Doch genug im Datenblatt geschmökert, jetzt geht´s ans Eingemachte.

Willkommen daheim

Aus organisatorischen Gründen ist der erste Testabschnitt mit dem 2011er Modell eine Autobahnetappe. Doch schon die 3 Kilometer bis zur Auffahrt reichen aus, die Neue mit dem gleichen „Hier-bin-ich-daheim“-Wohlfühlfaktor zu fahren, wie es einem eigentlich nur das eigene Motorrad vermittelt kann. Ok, ich gebe es zu, dass ist nicht ganz korrekt. Dieses Gefühl stellt sich schon an der zweiten Kreuzung ein. Es ist einfach unglaublich, welches Vertrauen die neue 10er bereits nach kürzester Zeit vermittelt. Es fühlt sich an, als wäre das alles schon mal da gewesen – Nur entspannter. Ein Blick ins Technikprotokoll sorgt für Klarheit. Befinden sich die Lenkerenden sowohl beim Modell 04/05, als auch bei der aktuellen Variante in gleicher Höhe (850 mm), ist die Sitzbank beim Modell 2011 sieben Millimeter niedriger, als bei der Ur-Zehner (813 statt 820 mm). Das ist nicht viel, aber der Effekt deutlich spürbar. In Kombination mit dem nun zwei Zentimeter breiteren Lenker entsteht so eine Sitzposition, die bei einem Supersportler nur mit „ziemlich komfortabel“ bezeichnet werden kann. Mal schauen, ob sich der bequeme Eindruck auch nach einem Tag im Nordschwarzwald bestätigt. Noch schnell das 17 Liter kleine Spritfass mit dem guten Super E5 gefüllt und ab auf die Bahn.

Hier gerät der soeben geweckte Vorwärtsdrang gleich mal ins Stocken. Kaum habe ich mich auf der linken Spur eingeordnet, erreiche ich auch schon die erste Baustelle und es geht nur noch im Bummeltempo weiter. Aber auch hier herrscht Friede-Freude-Eierkuchen. Einfach den 3 Gang einlegen und entspannt mit dem Verkehr mitrollen. Nervte die Ur-Zehner in diese Disziplin mit feinen Vibrationen, ist heuer davon nichts mehr zu spüren. Eine Kleinigkeit wäre da aber doch: Da die Frontverkleidung der 2011er auf Lenkerhöhe endet, hat die obere Hälfte Cockpitscheibe kaum Halt. Dadurch fangen die Ecken der Scheibe schon bei geringem Tempo stark an zu vibrieren. Das ist nicht wirklich störend, fällt bei Schleichfahrt aber auf.

Das Lieblingsschild aller Gasköpfe verkündet das Ende der Baustelle – Feuer frei! Sofort schiebt die 10er mit Vehemenz voran, ohne dabei aber jemals anstrengend zu werden. Man ist im ersten Moment fast dazu geneigt, die Leistungsentfaltung als unspektakulär zu bezeichnen. Aber nur im ersten Moment. Nach wenigen Sekunden laufe ich wieder auf Verkehr auf. Beim Griff zur Bremse schau ich noch kurz auf die hervorragend ablesbare Infozentrale. 274 km/h. Beängstigend. Der anschließende Blick in den Rückspiegel zeigt nur gähnende Leere. Wann, und vor allem wie ist das denn passiert?! Und wieso sehe ich den Spiegel überhaupt mehr, als nur meine Ellenbogen?

Letzteres ist leicht erklärt. Zum einen knicken die Spiegel direkt über der Verkleidungshalterung fast waagerecht ab, wodurch sie tiefer als beim Ur-Modell sitzen. Zum anderen fallen ihre Ausleger etwas länger aus. Die Folge: In Zweidrittel der Spiegel sieht man nicht seine eigenen Unterarme, sondern tatsächlich den rückwärtigen Verkehr. Sofern da ausnahmsweise welcher ist…

Gesicht des Jahres. Die Spiegel der 2011er stehen fast horizontal von der Verkleidung ab.

Punkt eins lässt sich zum Teil mit der sehr linearen Leistungsentfaltung erklären. Die täuscht nämlich enorm darüber hinweg, wie viel Dampf das Aggregat jenseits der 10.000er Marke wirklich abdrückt. Das volle Drehmoment von 112 Nm steht erst bei 11.500 Umdrehungen an, der Leistungszenit wird gar erst bei 13.000 U/min erreicht. Bis dahin steigen beide Kurven extrem gleichmäßig an. Und noch ein weiterer Punkt lässt die wahre Geschwindigkeit verkennen. Die Verkleidung und insbesondere das Windschild bieten prima Schutz vor dem heranbrausenden Orkan. Selbst bei Tempo 230 reicht eine leicht gebückte Haltung aus, um entspannt Strecke zu machen. Das hätte man dem wackeligen Ding gar nicht zugetraut!

Nach 25 km Autobahn verlässt mich dann aber die Lust auf stupides Geradeausbolzen. Zum Glück kommt auch schon meine Abfahrt und ich fahre die restlichen Kilometer bis zum Rendez-vous mit der Uroma über Land. Und ich meine Land. Es empfängt mich eine drittklassige Kreisstraße vom Typ Flickenteppich mit engen, blinden Ecken und so feinen Überraschungen wie plötzlich auftauchenden Traktoren oder deren Spuren auf dem Asphalt.

Und eben solche lassen mich gleich unbeabsichtigt das ABS testen. Noch etwas autobahnverwirrt unterschätze ich die Geschwindigkeit und knalle viel zu schnell auf das erste Dörfchen zu. Also ordentlich in die Eisen gegangen und dank schmutziger Fahrbahn direkt in den Regelbereich des ABS gebremst. Mehrfaches, leichtes, aber deutliches Pulsieren im Hebel – das war´s. Im ersten Moment ein ungewohntes, aber beruhigendes Gefühl. Funktionsprüfung mit Bravur bestanden. Auch sonst lassen die Stopper an der Front kaum Wünsche offen. Nicht zu aggressiv und mit hoher Transparenz, braucht man nie mehr als zwei Finger, um die Fuhre aus jeder Lebenslage wieder einzufangen. Einzig der Druckpunkt wies während des Warmfahrens eine Tendenz zum Wandern auf. War die Bremse aber erst auf Betriebstemperatur gebracht, verschwand das Phänomen.

Spaßbremse - Tokicosättel, 310mm Scheiben, KIBS-Radkranz. Verhindert erfolgreich unlustigen Bodenkontakt. Leider auch lustige Stoppies...

Aber nicht nur die Bremsanlage überzeugt bei der Hatz von Dorf zu Dorf. Vor allem das Fahrwerk zeigt, wie komfortabel die Federelemente moderner Sportler arbeiten können. Direkt, aber dennoch feinfühlig informieren die Big Piston Fork und das nun fast horizontal eingebaute Federbein über das, was unter einem gerade Sache ist. Nur sehr kurze und harte Schläge, wie sie zum Beispiel durch Kanten an abgesenkten Betonplatten verursacht werden, leitet das Federbein etwas grob ans verlängerte Kreuz weiter.

Liegendes Federbein mit ausgeklügelter Umlenkung (nicht im Bild)

Und ich muss immer wieder staunen, wie kultiviert der neue Kawa-Motor zu Werke geht, wie unglaublich sanft man das Gas anlegen kann.  Trotz des, durch den nächtlichen Regen, teils noch ziemlich feuchten Asphalts, verschwende ich keinen Gedanken daran, dass handzahme L-Mapping anzuwählen. Dabei müsste ich dafür nicht einmal anhalten. Lässt sie die Einstellung der TC nur im Stand wählen, kann man den Leistungsmodus auch bequem während der Fahrt variieren.

Jugendwahn

Inzwischen ist mein Kumpel Matze zu mir gestoßen. Vertrauensselig wie erst ist, stellt er mir nicht nur seine 10er für diesen Vergleich zur Verfügung, sondern begleitet mich auch als Co-Tester.

Matze W. aus R. - Großgrundbesitzer und 10er-Bändiger

Zeit, um die beiden Grazien einmal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Neben dem zeitlosen und noch immer polarisierenden Design der Ur-Zehner sowie der kantigen Linienführung des aktuellen Modells, fällt dabei vor allem die hohe Verarbeitungsqualität an beiden Motorrädern auf. Nichts wirkt grobschlächtig, die Lackierung ist tiptop und auch die Plastikteile machen einen wertigen Eindruck. Bei genauerem Hinsehen fällt dem geneigten Beobachter dann doch das ein oder andere unschöne Detail auf. So kann sich Kawasaki einfach nicht von den hässlichen Achsmuttern mit Sicherungssplint am Hinterrad trennen. Vermutlich wurde bereits in den 90er Jahren ein so großes Kontingent an Sicherungsstiften gekauft, dass auch die Modelle in 10 Jahren noch mit diesem Makel leben müssen.

Seit 15 Jahren das Gleiche: Billige Achsmutter mit Sicherungssplint

Einen weiteren Minuspunkt kassiert das 2011er Testmotorrad für seine unschönen Schweißnähte zwischen Lenkkopf und dem seitlichen Alurahmen. Ist das Pendant an der 2004er eine Augenweide, ist die Naht am neuen Motorrad weitaus weniger sauber gearbeitet.

Schön - perfekte Schweißtnaht an der 2005er

Weniger schön - die gleiche Schweißnaht am 2011er Modell

Und noch etwa stört das Auge im direkten Vergleich. Wirkt die Alte von Vorn bis Hinten wie aus einem Guss, so will das Heck des Neuankömmlings nicht so recht zur Gesamterscheinung passen. Zwar war unser Motorrad schon durch einen Zubehörkennzeichenhalter aufgewertet, dennoch vermisst man hier den kantig-aggressiven Eindruck, den die Front vermittelt. Das Heck der Rennversion würde hier viel besser passen.

Will trotz kleinem KZH nicht so recht passen - Heckansicht der aktuellen ZX-10R

Apropos Zubehör. Gerne hätte ich eine Ur-Zehner im Serienzustand für den Test herangezogen. Da unverbastelte Originale aber inzwischen so selten sind, wie Hollywood-Schönheiten ohne aufgespritzte Lippen und gestraffte Hupen, soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass auch die beim Fahrtest verwendete Maschine vom Jugend- und Schönheitswahn gezeichnet ist. Da sie die Fahreigenschaften direkt beeinflussen, müssen hier der Hyperpro Lenkungsdämpfer, die Gilles GP Light Lenkerstummel sowie die 19er Brembo Bremspumpe ausdrücklich erwähnt werden. Das die 2005er nicht mehr auf der schier unfahrbaren Dunlop Originalbereifung steht, erklärt sich wohl von selbst.

Die Goldene Mitte

Doch wie fühlt sich die gepimpte Uroma im direkten Vergleich zur Enkelin an? Höchste Zeit für einen Fahrzeugwechsel! Steigt man auf die 05er, spürt man wieder sofort die gemeinsamen Gene der beiden Modelle. Vor allem durch die erwähnten Gilles Lenkerstummel ist die Sitzposition fast so entspannt, wie auf der Neuen. Kein Vergleich zu den eng anliegenden Originallenkerhälften. Allerdings platziert die Alte ihren Piloten etwas mehr im Motorrad. Das ist bemerkenswert, denn bereits auf der Alten thronte man mehr über dem Motorrad, als darin integriert zu sein. Der Weg durch die Innenstadt zeigt dann aber doch, dass die Evolution inzwischen deutlich voran geschritten ist. Rollt man auf der Neuen recht entspannt durch den nachmittäglichen Stopp´n´Go-Verkehr, wird die Sache auf der Alten schnell zur Tortur. Durch die Kombination aus viel Gewicht auf den Handgelenken und den feinen Vibrationen, werden schnell die Finger taub und auch der Nacken macht sich bald bemerkbar. Außerdem nervt die Alte unter diesen Bedingungen durch ausgeprägte Lastwechselreaktionen. Ein Phänomen, das der Neuen völlig fremd ist. Selbst bei niedrigsten Drehzahlen geht der Motor so sanft ans Gas, dass man von fast Stillstand bis Stadtgeschwindigkeit alles im lang übersetzten, ersten Gang fahren kann. Und das natürlich ohne die Kupplung dosierend zu Hilfe nehmen zu müssen. Auf dem Ur-Modell kaum vorstellbar.

Lässt man aber die Stadtgrenzen hinter sich, schlägt die Stunde der Alten. Der Fahrtwind entlastet die Handgelenke, die Stimmung hellt sich auf und spätestens wenn es ans Überholen geht, zaubert die Oma einem ein fettes Grinsen ins Gesicht. Zwar hat die Neue deutlich mehr Highend-Power, im landstraßenrelevanten, mittleren Drehzahlbereich zieht die Alte dem Nachkömmling aber gnadenlos davon.

Aber das Leben ist nun mal keine topfebene Gerade, die nur ab und an von weitläufigen Bögen unterbrochen wird, sondern es schlängelt sich von A nach B und hält so einiges Hindernissen parat. Beim Motorradfahren kommen die meist in Form von pockennarbigem Asphalt, Bitumenstreifen und Belagwechseln daher. Also allem, was Unruhe ins Fahrwerk bringt. Und darauf reagiert die 2005er empfindlich.

Waren ihre Federelemente schon immer zu straff ausgelegt und damit ein Hauptkritikpunkt beim Thema Landstraßenfahrt, reagiert sie im Vergleich zur Neuen fast grobschlächtig.

Und so hat die Neue Ihre Vorvorvorgängerin nicht nur schnell ein-, sondern sogar sehr schnell überholt. Zwar verhält sich die getestet 05er, dank Lenkungsdämpfer und überarbeitetem Fahrwerk (Modellpflege zwischen 2004 und 2005) etwas neutraler als die unangetastete Standardversion; im Vergleich zur Neuen kann sie aber nicht mithalten. Da hilft auch der brutal anreißende Motor nichts, der einen aus den Ecken schießt, dass einem Hören und Sehen vergeht. Bei mittelmäßigen Asphalt und etwas engerem Geläuf ist der sogar von Nachteil. Unter diesen Bedingungen muss man sich ununterbrochen voll konzentrieren, um mit dem Gasgriff nicht irgendwas verkehrt zu machen. Nebenbei sollte man im Idealfall auch noch den gröbsten Straßenschäden ausweichen. Und das ist weder entspannt, noch macht es wirklich Spaß.

Die mit dem roten R - Die erste Zehner ging ab 2005 mit geändertem Fahrwerk und neuer Lichtmaschine ins Rennen

Ganz anders die Enkelin. Ihr absolut auf Fahrbarkeit ausgelegtes Gesamtkonzept lässt der Kontrahentin aus der eigenen Familie keine Chance. Vor allem die Stabilität beim Kurvenfahren ist der helle Wahnsinn. Ein Fahrgefühl, das sich nur mit der Phrase „wie hingedübelt“ beschreiben lässt. Man hat den Eindruck, als könne man die gewählte Schräglage einrasten und dann freihändig durch die Radien eilen. Und wird doch mal eine engere Linie nötig? Kein Problem. Einfach weiter abwinkeln und das gleiche sichere Gefühl genießen. Dazu bieten die griffigen Rasten und die schmal, rutschfeste Sitzbank noch den nötigen Halt. So macht Landstraßenbrennen Spaß!

Ein Tag im Grünen

Aber Achtung: Bei so viel Urvertrauen ins Material kann es schon mal vorkommen, dass man sportlicher zu Werke geht, als man es eigentlich beabsichtigt. Ist man bei der 05er wegen der immensen Leistung im mittleren Drehzahlbereich immer auf der Hut, erwischt einen der Jungspund manchmal eiskalt. Durch die homogene Leistungsentfaltung, die längere Übersetzung und das fehlende „Tritt-ins-Kreuz“-Gefühl hat man am Kurvenausgang oft den Eindruck, einen Gang höher zu sein, als für perfekten Vortrieb eigentlich nötig. Die Folge: Man zieht etwas kräftiger am Kabel und lässt vielleicht auch einen Moment länger stehen. Spätestens am angepeilten Bremspunkt merkt man aber, dass man erheblich flotter unterwegs ist, als einem an diesem Punkt eigentlich lieb ist. In der Regel fangen die Tokico-Stopper die Fuhre zwar souverän wieder ein. Für eine Schrecksekunde sorgt die Situation dennoch. Auch wenn die Neue noch so brav und alltagstauglich scheint, darf man auf keinen Fall vergessen, wie viel Leistung die Grüne im Handumdrehen ans Hinterrad schickt.

Ein Umstand, den man auf der Alten nie vergisst. An ihr geht wirklich alles brutal zu Werke. Mit vollen Segeln aus den Ecken? Ohne Lenkungsdämpfer reicht jede noch so kleine Bodenwelle und der Lenker keilt kräftig mit den Stummeln aus. Kleine Kuppe und ein bisschen zu viel Gas? Sofort macht die Zehner Männchen. Und natürlich fängt sofort das Heck an zu schwänzeln, wenn man den Anker mal wieder etwas zu sportlich geworfen hat. Das alles macht riesigen Spaß und setzt jede Menge Adrenalin frei. Aber nur für kurze Zeit. Es bedarf nämlich ununterbrochener Aufmerksamkeit, wenn man auf der 04er unterwegs ist. Und das lässt den Fahrer natürlich entsprechend schnell ermüden. Nebenbei hat das noch einen psychologischen Effekt. Das Ur-Vieh verlangtem den Hobbyfahrer immer alles ab und bedeutet auf diese Weise auch, dass sie immer viel mehr kann, als der Typ, der sie da gerade bei den Hörnern packt. Für das Fahrer-Ego ist das eher unbefriedigend.

Nun ist mit Sicherheit auch die Neue den meisten Straßenfahrern überlegen. Aber sie zeigt es nicht so offensichtlich. Im Gegenteil. Durch ihre Transparenz, die Stabilität und die Gutmütigkeit gibt sie einem immer das Gefühl, Herr der Lage zu sein. Das macht entspannt, und auf Dauer auch viel mehr Spaß.

Der Tag geht langsam zur Neige und es wird leider Zeit, an die Heimreise zu denken. Ein letztes Mal wechsle ich auf die alte Dame. Und bemerke zum ersten Mal, dass die Neue zwar eine bessere Ergonomie bietet, dafür aber das Sitzbrötchen der 2005er Zehner erheblich komfortabler ausgelegt ist. Auf der Rennstrecke leitet ein straffes Polster zwar mehr Info ans Popometer – nach einem Tag Landstraßenhatz schmeichelt die etwas weichere Sitzbank des Ur-Viehs dem Fahrerhintern aber eher. Und so lasse ich die Eindrücke des Tages noch einmal auf mich wirken und muss mir nach kurzer Zeit eingestehen, dass auf meinem Motorrad-Thron seit heute eine neue Königin sitzt.

Was sonst noch auffiel:

– das sich die Neue im kombinierten Testverbrauch 7,42 l auf 100 km genehmigte

– sie aber eine eco-Anzeige als Hilfe zum spritsparenden Fahren im Cockpit hat

– bei beiden Modellen die Kupplung recht schwergängige ist

– Drehzahlmesser und Schaltblitz bei der Alten unterirdisch schlecht sind,

– das „Infotainmentcenter“ bei der Neuen galaktisch gut ist

– das der, auf der 2011er montierte, Bridgstone BT 016 Pro sehr gut mit der Neue harmoniert

– der Sound bei beiden Modellen zur aggressiven Optik passt

– eine Außentemperaturanzeige an einem Motorrad eine nette Spielerei ist

– das aktuelle Basismodell 2.330 Euro teurer ist, als das Modell vor 7 Jahren (15.495 statt 13.165 €)

– die erste ZX-10R Generation in den Jahren 2004 und 2005 „Masterbike“ wurde

Bei diesem Cockpit kommt Rennatmosphäre auf

Fazit:

Mit der ZX-10R, Jahrgang 2011, ist Kawasaki endlich wieder ein ganz großer Wurf gelungen. Das komplett neu entwickelte Motorrad überzeugt nicht nur durch seine schiere Motorleitung, sondern vor allem durch das sehr ausgewogene Gesamtkonzept. Die Kombination aus superbem Fahrwerk, nahezu perfekter Ergonomie sowie der gut kontrollierbarer Leistungsentfaltung, sorgt für schier unbändigen Fahrspaß in allen Lebenslagen. Wäre die Sitzbank nicht ganz so straff und gäbe es Möglichkeiten größeres Gepäck sicher zu verzurren, man könnte damit sogar in den Urlaub fahren. Abgerundet wird das Ganze durch ein angriffslustiges und eigenständiges Design.

Egal welche Generation - die ZX-10R bietet beide königlichen Fahrspaß

Egal welche Generation - die ZX-10R bietet königlichen Fahrspaß

Aber auch die Ur-Oma hat kaum an Charme verloren. Durch ihr agiles Handling, die sehr guten Bremsen, aber vor allem durch den bärenstarken Motor ist sie noch heute eine Macht. Wird sie, wie unserTestmotorrad, noch durch einen Lenkungsdämpfer, moderne Straßenreifen und einen breiteren Lenker aufgewertet, braucht sie sich auch nach sieben Jahren nicht hinter der aktuellen Konkurrenz zu verstecken.

Zieht auch nach sieben Jahren noch alle Aufmerksamkeit auf sich; Unser Model Christine bevorzugte ganz klar die Ur-Zehner

Last but not least möchte ich mich herzlich bei Jürgen Rapp von Kawasaki Rapp in Willstätt-Legelshurst (www.rapp-kfz.de) bedanken. Er stellte mir für einen schmalen Euro seinen Vorführer zur Verfügung und macht so diesen Test überhaupt erst möglich.

Jürgen Rapp

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